Forschende Kunst 3 - Workshop 2
Forschende Kunst – Perspektiven des Alterns
Sa., 25. April 2015, 10-17:15 Uhr
Zentrifuge, Nürnberg
Zu Beginn des zweiten Tags gab Michael Schels eine kurze Einführung in den ästhetischen Prozess. Diese von der Zentrifuge im Rahmen von Forschende Kunst entwickelte Methode schafft Freiraum für einen offenen Austausch, bei dem die Teilnehmer gemeinsam und aus sich heraus am Fortgang des Geschehens teilhaben und diesen in Form und Inhalt mit gestalten. Ziellosigkeit, Sensibilisierung der Wahrnehmung und künstlerische Arbeit sind wesentliche Bestandteile dieses Prozesses. Mehr Informationen zum ästhetischen Prozess unter diesem ---> Link.
Nach einem kurzen Überblick über den Tagesablauf stiegen wir mit einer Rückbesinnung auf den vorangegangenen Workshoptag ein (die Dokumentation dieses Tages kann ---> hier nachgelesen werden). Die Teilnehmer wurden gebeten, ihre Erinnerungen an diesen Tag wach zu rufen – zur Unterstützung hingen nochmals die Charts vom ersten Tag aus. Die neu hinzu gekommenen Teilnehmer sollten versuchen, aus diesen Notizen die Inhalte zu rekonstruieren, auch wenn sie an diesem Tag nicht dabei waren.
Nachdem wir die bislang erarbeiteten Inhalte rekonstruiert hatten, brachte Jörg Bauer wieder einen fachlichen Impuls zur Lebensspannen-Forschung ein – diesmal mit dem Fokus auf „Altern und Erinnerung“. Die verbleibende Zeit bis zur Mittagspause gestaltete Uwe Weber mit Übungen aus der Theaterarbeit.
Nach der Mittagspause referierte Angela von Randow einen Vortrag zum Thema „gelingendes Altern“, den sie im Rahmen eines Seminars bei der Psychogerontologin Prof. Dr. Sabine Engel gehört hatte. Die Vortrags-Charts wurden ihr freundlicherweise von Prof. Engel zur Verfügung gestellt.
Am Nachmittag setzte Uwe Weber seine Theaterarbeit fort – erneut kamen Elemente u.a. des Statuentheaters nach Augusto Boal sowie Wahrnehmungsübungen nach Lee Straßberg (the method) zum Einsatz, die vor allem dazu dienten, unsere Vorstellungskraft und unser Erinnerungsvermögen zu schulen.
Abschließend besannen wir uns darauf und tauschten uns darüber aus, was wir an diesem Tag entdeckt haben und was uns (dabei) bewegt (hat).
Rekonstruktion des ersten Tages
Die Teilnehmer hatten zwischenzeitlich die Dokumentation des ersten Workshoptages erhalten, waren somit darüber im Bilde, was wir an diesem Tag erlebt und erarbeitet hatten. Dennoch war es uns wichtig, zu Beginn des zweiten Workshoptages noch einmal gemeinsam das Wesentliche des ersten Tages zusammen zu fassen.
Folgende Punkte wurden dabei ins Gedächtnis gerufen und erfuhren zum Teil eine Neubewertung:
Altern und Erinnerung - Impuls Jörg Bauer
In seinem Vortrag fokussierte Jörg Bauer diesmal auf den Zusammenhang von Altern und Erinnerung und stützte sich dabei auf eine bevölkerungsrepräsentative schwedische Langzeitstudie (Ronnlund, M. et al., 2005) Stability, growth and decline in adult life span development of declarative memory: cross-sectional and longitudinal data from a population-based study. Psychol. Aging 20, 3–18).
Zuerst gab Jörg Bauer einige Hinweise, wie unser Gedächtnis funktioniert und unterschied beim Langzeitgedächtnis zwischen deklarativem und impliziten Gedächtnis, wobei das deklarative Gedächtnis bewusst ist und semantisches, episodische und autobiografische Inhalte umfasst. Das implizite Gedächtnis hingegen ist unbewusst und steht für Aspekte wie Konditionierung und Priming („Bahnung“). Das implizite Gedächtnis wird auch prozessuales Gedächtnis genannt. Das Kurzzeitgedächtnis fungiert dem gegenüber als Arbeitsgedächtnis („Working Memory“). Sowohl das Kurz - als auch das Langzeitgedächtnis nehmen im Alter ab. Allerdings nimmt das deklarative Gedächtnis im Alter stärker ab als das implizite.
Jörg Bauer wies im Anschluss darauf hin, dass Fakten länger erhalten bleiben als episodische Erinnerungen: Die episodische Erinnerung nimmt im Schnitt schneller ab (ab 60-65) als die Erinnerung an Fakten (ab 70). Es gibt dabei jedoch individuelle Unterschiede: 10% der Probanden zeigen in einer schwedischen Langzeit-Studie (Nilsson, L.G. et al., 1997, The Betula prospective cohort study:Memory, health and aging. Aging Neuropsychol. Cogn. 4, 1–322012) kaum nachlassende kognitive Fähigkeiten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass Life-Style und Gene den Verlust verlangsamen können. In Bezug auf die Erinnerungsfähigkeit ist somit wichtiger, was aktuell getan wird als das, was früher (für eine Verbesserung des Gedächtnisses) getan wurde. Demenz ist hiervon allerdings ausgeschlossen – diese kann durch Therapie kaum revidiert, sondern nur stabilisiert bzw. verlangsamt werden.
Im weiteren führte Jörg Bauer aus, wie wichtig autobiografische Erinnerungen für die Identitätsbildung sind. Diese entsprechen einem selbstreferentiellen Gedächtnis, das persönliche Erfahrungen verarbeitet und sind bedeutsam für die Bildung kurz- und langfristiger Ziele. Sie wirken sich damit auf die Identität und die Überzeugungen eines Menschen aus. Das autobiografische Gedächtnis (was passiert mir) ist typisch menschlich und geht weit über das bei allen höhere Lebewesen angelegte episodische Gedächtnis (was ist passiert) hinaus. Es beeinflusst das gegenwärtige und zukünftige Verhalten und wirkt sich auch auf soziale und emotionale Funktionen aus – es beeinflusst das Selbstverständnis ebenso wie Beziehungen und die Selbstregulation.
Jörg Bauer betonte dabei auch, dass autobiografische Erinnerungen über die Lebensspanne sehr unterschiedlich verteilt sind. So gibt es eine „kindliche Amnesie“ - an die ersten Lebensjahre können wir uns so gut wie gar nicht erinnern. Gründe hierfür sind u.a. die in der Kindheit noch geringe Entwicklung des Hippocampus oder die noch nicht entwickelte Sprache. In der Adoleszenz-Phase kommt es dann zu einem „reminiscence bump“ - an diese Zeit können wir uns in der Regel sehr gut erinnern. Von der Jugend bis ins höhere Alter werden zudem noch nicht lange zurück liegende Erlebnisse naturgemäß gut erinnert – dies nennt man den „Recency Effect“. Ab 60-65 Jahren nimmt dann das Erinnerungsvermögen kontinuierlich ab (Alters-Effekt).
Da am ersten Workshoptag die Frage auftauchte, ob die Vorstellungskraft im Alter nachlässt, hat Jörg Bauer dazu einen eigenen Punkt in seinen Vortrag eingebaut. Nach einer Studie von Schachter (2008) lässt die Vorstellungskraft im Alter nachweislich nach - dies hat aber nichts mit nachlassender Sprachfähigkeit zu tun.
Allerdings überwiegt das Faktenwissen in Vorstellungen von Älteren gegenüber Jüngeren. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass Autobiografie für die Gestaltung der Zukunft relevant ist: Episodische Erinnerungen haben eine auf die Zukunft gerichtete Funktion, so dass bei besserer episodischer Erinnerung besser geplant werden kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Jörg Bauers Vortrag war der Verweis auf die Entwicklung des autobiografischen Selbst im Zusammenhang mit der Gesellschaft: Es kann kein „Ich“ ohne „die Anderen“ geben. Dabei hat die Sprache eine wesentliche Funktion. Sie hilft, Narrative mit anderen zu teilen. Deren unterschiedliche oder gleiche Perspektiven auf Situationen, Erlebnisse und das Selbst (“Du hast...“, „Du warst...“, „Du bist...“) kreieren ein nuanciertes Bild des Selbst (Reflektion). Nach dieser Sichtweise ist ein differenziertes Selbst ohne „die Anderen“ kaum möglich. Das autobiografische Selbst ist somit auch besonders von kulturellen Normen - also was für eine Kultur akzeptabel oder wünschenswert ist (z.B. Moral) – geprägt. Ein Hinweis auf Victor von Aveyron (* um 1788; † 1828 in Paris) machte diese These plausibel: Der „Wilde von Aveyron“ war ein in Frankreich entdecktes sogenanntes Wolfskind. Nach Meinung von Kognitionswissen-schaftlern hatte er kein „Me“ (autobiografisches Selbst) sondern nur ein „I“ (Experiental Self).
Jörg Bauer betonte, dass bei der Entwicklung des autobiografischen Selbst die Rolle der Mutter sehr wichtig sei, da sie das autobiografische Selbst (“Me”)“ stabilisiere: Wenn Mütter mit Kleinkindern detailliert kommunizieren und z.B. mit offenen Fragen Erinnerungen wachrufen, dann können sich diese Kinder später auch besser an ihre frühe Kindheit erinnern, was letztlich identitätsbildend wirke. Zu beachten sie dabei allerdings, dass sich das autobiografische Ich in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich entwickelt (je nach Wichtigkeit von „Ego“ oder „sozialer Gemeinschaft“).
Ein weiterer wichtiger Punkt bei diesem Vortrag war der Verweis auf den Zusammenhang von Bindung und Erinnerung: Studien zeigen, dass die Erinnerung mit der Bindungsfähigkeit und dem Bindungstyp der eigenen Kinder korreliert.
Bei diesen Studien wurde die Bindungsfähigkeit bei Erwachsenen mit dem Erleben in ihrer frühen Kindheit in Zusammenhang gebracht. Es wurden dabei vier Bindungstypen heraus gearbeitet: secure (sicher), preoccupied (abwesend), dismissing-avoidant (abweisend-vermeidend) und fearful-avoidant (ängstlich-vermeidend).
Erwachsene, die dem sicheren Bindungstyp (Secure-Typ) zugeordnet werden können, zeichnen sich durch geringe Fremdheitsgefühle (Offenheit und Zutrauen) und geringe Vermeidungshaltungen (pflegen Kontakte) aus. Sie haben relativ genaue Erinnerungen und stellen ihre Kindheit und das Beziehungsgeschehen in ihrem Leben ausgewogen, sachlich und kohärent dar. Auch negative Erfahrungen lassen sie zu und können diese mit einer gesunden Distanz schildern. Die der Kategorie „abwesend“ („preoccupied“) zugeordneten Erwachsenen haben ein starkes Fremdheitsgefühl (verschlossen und misstrauisch), jedoch eine geringe Vermeidungshaltung (halten an Bindungen fest). Sie weisen unausgewogene Darstellungen und Beurteilungen der Beziehungen zu den Eltern auf. Ihre Aussagen sind inkohärent und von affektiven Aspekten wie Hilflosigkeit und Wut getragen. Erwachsene des abweisend-vermeidenden („dismissing-avoidant“)-Typs kombinieren ein geringes Fremdheitsgefühl (Offenheit und Zutrauen) mit starken Vermeidungshaltungen (gehen Menschen eher aus dem Weg). Sie fallen durch ein geringes Erinnerungsvermögen auf. Bei ihnen kommt es zu einer Idealisierung der Eltern oder zu einer Abwertung von Bindungspersonen und Bindung im Allgemeinen. Ihre Aussagen sind inkohärent und von überwiegend kognitiven Aspekten getragen. Der ängstlich-vermeidende Typ (fearful-avoidant) hat ein starkes Fremdheitsgefühl (verschlossen und misstrauisch) und dazu noch eine starke Vermeidungshaltung.
Die Erinnerung an die Beziehung zu den Eltern bei den nicht “sicher” Gebundenen zeigt insgesamt weniger Details und wirkt entsprechend lückenhaft, ist aber auch eher generalisiert als differenziert.
Abschließend ging Jörg Bauer noch darauf ein, wie sich chronischer Stress und Depression auf das Erinnerungsvermögen auswirken. Untersuchungen zeigen, dass viele Formen von Erinnerungsverlust stress - bzw. emotionsbedingt sind. So konnte z.B. nachgewiesen werden, dass der für Gedächtnisprozesse elementare Hippocampus bei Depression kleiner wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Depressionen mit Entzündungsreaktionen korrelieren und umgekehrt.
Insgesamt zeigten die Ausführungen, wie wichtig Erinnerungen für die Entstehung von sozialen Beziehungen und anschließend für die Gesundheit sind: Erinnerungen prägen soziale Beziehungen und diese beeinflussen wiederum die psychische und (wie aus dem ersten Tag klar wurde) physiologische Gesundheit (über cardiovasculäre und immunologische Funktionen).
Gelingendes Altern - Impuls Angela von Randow
Nach der Mittagspause stellte uns Angela von Randow eine Präsentation der Psychogerontologin Prof. Dr. Sabine Engel vor, die sie von ihr freundlicherweise zur Weitergabe erhalten hatte. In ihrem am 6. Februar 2015 gehaltenen Vortrag beschäftigte sich Prof. Engel mit dem Thema „Gelingendes Altern“. Prof. Engel begann ihren – von Angela von Randow wiedergegebenem - Vortrag mit einem Verweis auf die sozioemotionale Selektionstheorie, die besagt, dass es im Alter zwar zu einer quantitativen Reduktion der sozialen Interaktionen komme, aber gleichzeitig auch zu einer Konzentration auf die qualitativ wichtigen Beziehungen. Dies seien gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Altern. Auch die Umwelt sei für ein gelingendes Altern relevant.
Es habe sich gezeigt, dass Menschen auch mit Beeinträchtigungen erfolgreich altern können, wenn sie in der für sie passenden Umwelt leben: Für jedes Kompetenzniveau gebe es die passende Umwelt, die gutes Altern ermögliche. Anschließend wurde das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation vorgestellt. Dieses besagt, dass Menschen erfolgreich altern können, wenn die Einschränkungen (des Alters) adaptiv ausgeglichen werden durch Selektion, Optimierung und Kompensation. Selektion bedeutet Auswahl von Zielen und Präferenzen, Optimierung den Einsatz zielrelevanter Handlungsmittel und und Kompensation den Einsatz von (neuen) Mitteln bei Verlust.
Wie kann man nun die Entwicklung beim Altern positiv beeinflussen? Nach Prof. Engel können Menschen „erfolgreich altern“, wenn es ihnen gelinge, ihre motivationalen Ressourcen durch sekundäre Kontrolle so zu schützen, dass sie dennoch handlungsfähig bleiben. Als Beispiele sekundären Kontrollstrebens im Umgang mit Misserfolg oder Verlust führt Prof. Engel an: Abwertung und Ablösung von (nicht mehr erreichbaren) Zielen und neue (erreichbare) Ziele finden; Uminterpretation des Verlustes („positive Seiten“ finden); externale Attribution der Ursachen für Verlust und Misserfolg (die „Schuld“ oder Ursache nicht bei sich suchen); selbstschützende soziale Vergleiche (im Vergleich mit anderen geht es mir ja noch relativ gut) und selbstschützende intra-individuelle Vergleiche (temporale Vergleiche, bei denen ich mein Leben durch frühere positive Erlebnisse insgesamt würdige).
Für ein gelingendes Altern sind auch Neuorientierungen in bestimmten Lebensphasen notwendig – beispielsweise nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oder wenn sinnstiftende Bereiche entfallen, z.B. wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Auch wenn es in der Ehe oder in Beziehungen zu Veränderungen kommt, sind oft Neuorientierungen nötig. Zudem ist für ein gelingendes Altern auch wichtig, dass Verluste bewältigt werden (Tod, Erkrankungen, körperliche Einschränkungen, Umzug ins Heim etc). Ebenso gilt es Belastungen zu bewältigen, z.B. wenn ein Verwandter demenzkrank wird, wenn traumatische Erlebnisse reaktualisiert werden oder wenn Ängste vor Erkrankung und Abhängigkeit entstehen. Schließlich sei es für ein gelingendes Altern auch unabdingbar, rechtzeitig Hilfen zu organisieren, um im Falle von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit gewappnet zu sein.
Theaterarbeit
Uwe Weber setzte am zweiten Workshoptag seine Theaterarbeit fort – er startete mit Stimm- und Bewegungsübungen, die dazu anregten, die eigenen kreativen Spielräume auszuprobieren und miteinander ins Spiel zu kommen. Das Erkunden und Erleben innerer Erfahrungsräume stärkte unsere Vorstellungskraft und wir bekamen ein Gefühl davon, dass wir auch in unabsehbaren Situationen auf unsere inneren Kräfte vertrauen können. Durch spielerische, gestisch und lautmalerisch angereicherte Interaktionen stärkten wir das Vertrauen in uns selbst und auch unter- und zueinander. Wir bauten gemeinsam lebendige Skupturen, wechselten uns ab als „Bildhauer“ oder „Material“ und setzten intuitiv unsere Vorstellungen und Ideen in Szene. Anschließend interpretierten wir unsere lebendigen „Kunstwerke“ bzw. tauschten uns über deren Sinngehalt aus. In einem weiteren Schritt brachte uns Uwe Weber dazu, unseren bislang noch recht statisch wirkenden Inszenierungen Leben einzuhauchen und diese mit Sprache und Bewegung anzureichern, so dass kurze Sequenzen entstanden. Die Bilder lernten laufen, wir betraten die Bühne unserer Erinnerung.
Die Theaterarbeit schloss mit einer Erinnerungsübung ab: Wir begaben uns in Einzelarbeit in Räume unserer Kindheit oder Jugend und versuchten diese mit allen Sinnen zu erkunden: Nicht nur, wie „mein“ Kinder- oder Jugendzimmer damals “aussah“, wurde erkundet – auch welche Sinnesqualitäten (z.B. Farbe der Wände, Beschaffenheit des Fußbodens, Gerüche etc) über das Visuelle hinaus (in der Erinnerung) auftauchten. Das von Uwe Weber angeregte Zusammenspiel der unterschiedlichen sinnlichen Erinnerungen förderte schon lange nicht mehr wahrgenommene (scheinbar vergessene) Bewusstseinsinhalte zutage – manche(r) konnte sich an Wahrnehmungen (Räume, Gegenstände, Berührungen, Bewegungen) erinnern, die er/sie schon lange nicht mehr im Bewusstsein hatte. Es war allerdings manchmal (noch) nicht ganz auszumachen, inwieweit hier tatsächliche Erinnerungen aufschienen oder ob nicht eher Projektionen im Spiel waren. Die vorgeschlagenen Theaterspiele dringen erst durch die wiederholte Übung in tiefere Schichten des Bewusstseins ein und können, wie schon erwähnt, längst verschüttetet geglaubte Erinnerungen wieder lebendig werden lassen, die sich dann wiederum als authentisches, originäres Basismaterial für eine weitere kreative und künstlerische Bearbeitung oder Umsetzung nicht nur in der darstellenden Kunst anbieten.
Erkenntnisse / Resümee
Die Erkenntnisse, die wir an diesem Tag gewannen, waren vielschichtig – besonders die Theaterarbeit wurde als „wunderbares Medium“ gewürdigt, mit dem es gelingt, Altern aus eigener und fremder Perspektive mit all seinen „Schatten- und Lichtseiten“ wahrzunehmen. Aus Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen formten wir lebendige Skulpturen, die dann durch spontane und von individuellen Vorstellungen geprägte (Inter-) Aktionen ein szenisches Eigenleben entwickelten. Das gemeinsame Durchspielen von Rollenverhältnissen erinnerte manche(n) im positiven Sinne an Familienaufstellung. Die theaterpraktischen Übungen machten jedenfalls „Lust auf mehr“.
Die Theaterarbeit zeigte zudem exemplarisch auf, dass nonverbale Auseinandersetzungen sehr intensive Erlebnisse und unerwartete Erkenntnisse hervorrufen können. Dies wurde als Chance für neue Formen kommunikativer Prozesse gewürdigt - „bewegende Kontakte gehen stets über den Körper“. Oder anders gesagt: Als besonders bewegend und wohltuend wurde die gemeinsame Arbeit, das „Etwas miteinander machen“ und das „Zusammenwirken“ empfunden. Gerade das körperliche Zusammenspiel erwies sich als eine ideale Methode, um Zutrauen und Vertrauen untereinander zu erfahren bzw. zu entwickeln.
Erneut löste sich der herkömmliche Blick auf den Begriff „Alter“ auf: „Alter“ kann zeitlos und sinnlich sein und viel Weisheit enthalten. Neue Dimensionen des Alter(n)s schienen auf – auch und gerade im Hinblick auf Spiritualität.
Der Mensch als soziales Wesen, der Zusammenhang von Beziehung und Gesundheit und unser Eingebundensein in eine (reflexive) „Spiegelwelt“ zeigten auf, dass es beim Altern eminent wichtig ist, sich in der Realität (und nicht nur virtuell) auszutauschen und zu vernetzen.
Die Auswirkungen von Erinnerungen auf die Fähigkeit der Zukunftsgestaltung wurde ebenfalls als wichtige Erkenntnis dieses Tages genannt. Sich von der Realität abzuwenden bzw. sich vor ihr zu verschließen hat zur Folge, dass wir unsere Spielräume unverhältnismäßig und ohne Not einschränken, was sich auch lebensverkürzend auswirken kann.
Es wurde nochmals betont, dass die individuelle, persönliche Situation oft stark abweicht von Bildern über das Altern in der Öffentlichkeit. Das Spannungsfeld zwischen Individuum und System bzw. Mensch und Gesellschaft wurde als ein noch weiter zu erkundender Bereich offensichtlich.
Ein weiteres Ergebnis dieses Tages war die Erkenntnis, dass jeder sein Experte des gelingenden Alterns ist – man kann auf das Alter schauen, ohne zu dramatisieren oder zu verzweifeln und somit „das Beste“ daraus machen.
Sa., 25. April 2015, 10-17:15 Uhr
Zentrifuge, Nürnberg
Zu Beginn des zweiten Tags gab Michael Schels eine kurze Einführung in den ästhetischen Prozess. Diese von der Zentrifuge im Rahmen von Forschende Kunst entwickelte Methode schafft Freiraum für einen offenen Austausch, bei dem die Teilnehmer gemeinsam und aus sich heraus am Fortgang des Geschehens teilhaben und diesen in Form und Inhalt mit gestalten. Ziellosigkeit, Sensibilisierung der Wahrnehmung und künstlerische Arbeit sind wesentliche Bestandteile dieses Prozesses. Mehr Informationen zum ästhetischen Prozess unter diesem ---> Link.
Nach einem kurzen Überblick über den Tagesablauf stiegen wir mit einer Rückbesinnung auf den vorangegangenen Workshoptag ein (die Dokumentation dieses Tages kann ---> hier nachgelesen werden). Die Teilnehmer wurden gebeten, ihre Erinnerungen an diesen Tag wach zu rufen – zur Unterstützung hingen nochmals die Charts vom ersten Tag aus. Die neu hinzu gekommenen Teilnehmer sollten versuchen, aus diesen Notizen die Inhalte zu rekonstruieren, auch wenn sie an diesem Tag nicht dabei waren.
Nachdem wir die bislang erarbeiteten Inhalte rekonstruiert hatten, brachte Jörg Bauer wieder einen fachlichen Impuls zur Lebensspannen-Forschung ein – diesmal mit dem Fokus auf „Altern und Erinnerung“. Die verbleibende Zeit bis zur Mittagspause gestaltete Uwe Weber mit Übungen aus der Theaterarbeit.
Nach der Mittagspause referierte Angela von Randow einen Vortrag zum Thema „gelingendes Altern“, den sie im Rahmen eines Seminars bei der Psychogerontologin Prof. Dr. Sabine Engel gehört hatte. Die Vortrags-Charts wurden ihr freundlicherweise von Prof. Engel zur Verfügung gestellt.
Am Nachmittag setzte Uwe Weber seine Theaterarbeit fort – erneut kamen Elemente u.a. des Statuentheaters nach Augusto Boal sowie Wahrnehmungsübungen nach Lee Straßberg (the method) zum Einsatz, die vor allem dazu dienten, unsere Vorstellungskraft und unser Erinnerungsvermögen zu schulen.
Abschließend besannen wir uns darauf und tauschten uns darüber aus, was wir an diesem Tag entdeckt haben und was uns (dabei) bewegt (hat).
Rekonstruktion des ersten Tages
Die Teilnehmer hatten zwischenzeitlich die Dokumentation des ersten Workshoptages erhalten, waren somit darüber im Bilde, was wir an diesem Tag erlebt und erarbeitet hatten. Dennoch war es uns wichtig, zu Beginn des zweiten Workshoptages noch einmal gemeinsam das Wesentliche des ersten Tages zusammen zu fassen.
Folgende Punkte wurden dabei ins Gedächtnis gerufen und erfuhren zum Teil eine Neubewertung:
- Der erste Tag spiegelte insgesamt unsere individuellen und sozialen Ängste in Bezug auf das Altern sowie unsere Wünsche für ein gelingendes Altern wider.
- Wir stellten schwindende, aber auch positive Chancen beim Altern fest.
- Altern bedeutet auch ein Zugewinn an Erfahrungen.
- Altern wird in Verbindung gebracht mit mehr Qualität als Quantität bei Sozialkon-takten, auch das Thema Fitness und Alterssicherung sind im Alter relevant.
- Bislang bewegten wir uns eher auf der psychosozialen, persönlichen „Fall“-Ebene – die gesellschaftliche bzw. soziale Ebene wurde im Rückblick aus professioneller Sicht vermisst. Auch ist bislang unbeantwortet, wie politische oder wirtschaftliche Systeme mit dem Altern umgehen bzw. wie sich Altern in diesen Systemen darstellt bzw. ereignet.
- Eine große Herausforderung ist das mentale Meistern des Alterns: Wie kann ich angesichts des Alterns „Mensch“ sein, bleiben oder gar erst werden - wie kann ich zu mir kommen?
- Das persönliche Einfühlen in unser kommendes Alter bei der Theaterarbeit wurde als besonders einprägsam empfunden.
- Der Begriff „indirekte Fruchtbarkeit“ verankerte sich ebenfalls stark im Gedächtnis – gemeint ist damit eine gesteigerte (Über-)Lebensfähigkeit in generationenübergrei-fenden Gemeinschaften.
- Als zentrale Erkenntnis der Lebensspannenforschung erinnerten wir uns an das schon fast magisch zu nennende Alter um die 50 – hier ereignet sich sehr viel, was die Erfahrung des Alterns unausweichlich macht („ultimatives Altern“ um die 50).
- Auch der Zusammenhang von Altern und Beziehungen wurde stark erinnert – gerade in Bezug auf die positiven Effekte von Beziehungen auf die Gesundheit (Psycho-immunologie), woraus folgt, dass im Alter Netzwerke und Freundschaften bewusst gepflegt werden sollten.
- Die Frage, welches Bild wir uns vom Alter machen und inwieweit wir - medial vermittelt - falsche Bilder vom Alter haben, war ebenfalls ein wichtiger Aspekt des ersten Workshoptages. Wir sollten lernen, unsere Konditionierungen und Vorstellungen über das Alter aufzubrechen und neue Perspektiven zu entwickeln.
- Damit verbunden ist die Feststellung, dass Individuelle Bilder vom und über das Alter oft erheblich abweichen von kollektiven, medial, politisch etc. vermittelten Bildern und Begriffen.
- Der Begriff „Gnadenhof“ wurde erneut ins Spiel gebracht – als Beispiel für die Idee eines gelingenden, generationenübergreifenden, gemeinsamen und solidarischen Alterns.
- Der körperliche und geistige Alterungsprozess nimmt mit 65 Jahren deutlich zu bzw. wird ab diesem Alter evident.
- Als wir uns bei der Theaterarbeit unser Leben in etwa 20 Jahre vorstellten, machten wir uns gefühlt älter als wir es dann wohl sein würden. War hier eine unterschwellige Selbstbeschränkung im Spiel?
- Die Selbstwahrnehmung differiert erheblich von der Fremdwahrnehmung – ältere Menschen schätzen sich i.d.R. ca. 15 Jahre jünger ein als sie von ihrer Umwelt eingeschätzt werden.
- Auch trotz oder gerade wegen des nahenden Todes kann man im Alter Lebensmut ausstrahlen und vermitteln. Keine Angst vor dem Sterben zu haben, kann als Vorbild dienen. Im Konflikt dazu wird die moderne Medizin angesehen, die um jeden Preis lebensverlängernd wirken will und sei dies ohne Zustimmung der Betroffenen und damit gezwungenermaßen.
- Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Tod empfahl Uwe Weber das Museum Sepulkralkultur in Kassel und einen Blick auf die heilige indische Stadt Varanasi.
- Angesichts des Alterns stellt sich verstärkt die Frage, was es bedeutet (gemeinsam) zu leben und zu sterben. Die Ehrfurcht vor dem Leben wird spürbar – das Leben will intensiv gelebt werden. Zugleich wurde der Wunsch deutlich, sich im Alter zunehmend differenziert mit ausgewählten Themen oder Lebensaspekten zu befassen und sich diesen zu widmen. Die Ruhe, die man im Alter gewinnt, bietet hier viele Chancen.
Altern und Erinnerung - Impuls Jörg Bauer
In seinem Vortrag fokussierte Jörg Bauer diesmal auf den Zusammenhang von Altern und Erinnerung und stützte sich dabei auf eine bevölkerungsrepräsentative schwedische Langzeitstudie (Ronnlund, M. et al., 2005) Stability, growth and decline in adult life span development of declarative memory: cross-sectional and longitudinal data from a population-based study. Psychol. Aging 20, 3–18).
Zuerst gab Jörg Bauer einige Hinweise, wie unser Gedächtnis funktioniert und unterschied beim Langzeitgedächtnis zwischen deklarativem und impliziten Gedächtnis, wobei das deklarative Gedächtnis bewusst ist und semantisches, episodische und autobiografische Inhalte umfasst. Das implizite Gedächtnis hingegen ist unbewusst und steht für Aspekte wie Konditionierung und Priming („Bahnung“). Das implizite Gedächtnis wird auch prozessuales Gedächtnis genannt. Das Kurzzeitgedächtnis fungiert dem gegenüber als Arbeitsgedächtnis („Working Memory“). Sowohl das Kurz - als auch das Langzeitgedächtnis nehmen im Alter ab. Allerdings nimmt das deklarative Gedächtnis im Alter stärker ab als das implizite.
Jörg Bauer wies im Anschluss darauf hin, dass Fakten länger erhalten bleiben als episodische Erinnerungen: Die episodische Erinnerung nimmt im Schnitt schneller ab (ab 60-65) als die Erinnerung an Fakten (ab 70). Es gibt dabei jedoch individuelle Unterschiede: 10% der Probanden zeigen in einer schwedischen Langzeit-Studie (Nilsson, L.G. et al., 1997, The Betula prospective cohort study:Memory, health and aging. Aging Neuropsychol. Cogn. 4, 1–322012) kaum nachlassende kognitive Fähigkeiten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass Life-Style und Gene den Verlust verlangsamen können. In Bezug auf die Erinnerungsfähigkeit ist somit wichtiger, was aktuell getan wird als das, was früher (für eine Verbesserung des Gedächtnisses) getan wurde. Demenz ist hiervon allerdings ausgeschlossen – diese kann durch Therapie kaum revidiert, sondern nur stabilisiert bzw. verlangsamt werden.
Im weiteren führte Jörg Bauer aus, wie wichtig autobiografische Erinnerungen für die Identitätsbildung sind. Diese entsprechen einem selbstreferentiellen Gedächtnis, das persönliche Erfahrungen verarbeitet und sind bedeutsam für die Bildung kurz- und langfristiger Ziele. Sie wirken sich damit auf die Identität und die Überzeugungen eines Menschen aus. Das autobiografische Gedächtnis (was passiert mir) ist typisch menschlich und geht weit über das bei allen höhere Lebewesen angelegte episodische Gedächtnis (was ist passiert) hinaus. Es beeinflusst das gegenwärtige und zukünftige Verhalten und wirkt sich auch auf soziale und emotionale Funktionen aus – es beeinflusst das Selbstverständnis ebenso wie Beziehungen und die Selbstregulation.
Jörg Bauer betonte dabei auch, dass autobiografische Erinnerungen über die Lebensspanne sehr unterschiedlich verteilt sind. So gibt es eine „kindliche Amnesie“ - an die ersten Lebensjahre können wir uns so gut wie gar nicht erinnern. Gründe hierfür sind u.a. die in der Kindheit noch geringe Entwicklung des Hippocampus oder die noch nicht entwickelte Sprache. In der Adoleszenz-Phase kommt es dann zu einem „reminiscence bump“ - an diese Zeit können wir uns in der Regel sehr gut erinnern. Von der Jugend bis ins höhere Alter werden zudem noch nicht lange zurück liegende Erlebnisse naturgemäß gut erinnert – dies nennt man den „Recency Effect“. Ab 60-65 Jahren nimmt dann das Erinnerungsvermögen kontinuierlich ab (Alters-Effekt).
Da am ersten Workshoptag die Frage auftauchte, ob die Vorstellungskraft im Alter nachlässt, hat Jörg Bauer dazu einen eigenen Punkt in seinen Vortrag eingebaut. Nach einer Studie von Schachter (2008) lässt die Vorstellungskraft im Alter nachweislich nach - dies hat aber nichts mit nachlassender Sprachfähigkeit zu tun.
Allerdings überwiegt das Faktenwissen in Vorstellungen von Älteren gegenüber Jüngeren. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass Autobiografie für die Gestaltung der Zukunft relevant ist: Episodische Erinnerungen haben eine auf die Zukunft gerichtete Funktion, so dass bei besserer episodischer Erinnerung besser geplant werden kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Jörg Bauers Vortrag war der Verweis auf die Entwicklung des autobiografischen Selbst im Zusammenhang mit der Gesellschaft: Es kann kein „Ich“ ohne „die Anderen“ geben. Dabei hat die Sprache eine wesentliche Funktion. Sie hilft, Narrative mit anderen zu teilen. Deren unterschiedliche oder gleiche Perspektiven auf Situationen, Erlebnisse und das Selbst (“Du hast...“, „Du warst...“, „Du bist...“) kreieren ein nuanciertes Bild des Selbst (Reflektion). Nach dieser Sichtweise ist ein differenziertes Selbst ohne „die Anderen“ kaum möglich. Das autobiografische Selbst ist somit auch besonders von kulturellen Normen - also was für eine Kultur akzeptabel oder wünschenswert ist (z.B. Moral) – geprägt. Ein Hinweis auf Victor von Aveyron (* um 1788; † 1828 in Paris) machte diese These plausibel: Der „Wilde von Aveyron“ war ein in Frankreich entdecktes sogenanntes Wolfskind. Nach Meinung von Kognitionswissen-schaftlern hatte er kein „Me“ (autobiografisches Selbst) sondern nur ein „I“ (Experiental Self).
Jörg Bauer betonte, dass bei der Entwicklung des autobiografischen Selbst die Rolle der Mutter sehr wichtig sei, da sie das autobiografische Selbst (“Me”)“ stabilisiere: Wenn Mütter mit Kleinkindern detailliert kommunizieren und z.B. mit offenen Fragen Erinnerungen wachrufen, dann können sich diese Kinder später auch besser an ihre frühe Kindheit erinnern, was letztlich identitätsbildend wirke. Zu beachten sie dabei allerdings, dass sich das autobiografische Ich in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich entwickelt (je nach Wichtigkeit von „Ego“ oder „sozialer Gemeinschaft“).
Ein weiterer wichtiger Punkt bei diesem Vortrag war der Verweis auf den Zusammenhang von Bindung und Erinnerung: Studien zeigen, dass die Erinnerung mit der Bindungsfähigkeit und dem Bindungstyp der eigenen Kinder korreliert.
Bei diesen Studien wurde die Bindungsfähigkeit bei Erwachsenen mit dem Erleben in ihrer frühen Kindheit in Zusammenhang gebracht. Es wurden dabei vier Bindungstypen heraus gearbeitet: secure (sicher), preoccupied (abwesend), dismissing-avoidant (abweisend-vermeidend) und fearful-avoidant (ängstlich-vermeidend).
Erwachsene, die dem sicheren Bindungstyp (Secure-Typ) zugeordnet werden können, zeichnen sich durch geringe Fremdheitsgefühle (Offenheit und Zutrauen) und geringe Vermeidungshaltungen (pflegen Kontakte) aus. Sie haben relativ genaue Erinnerungen und stellen ihre Kindheit und das Beziehungsgeschehen in ihrem Leben ausgewogen, sachlich und kohärent dar. Auch negative Erfahrungen lassen sie zu und können diese mit einer gesunden Distanz schildern. Die der Kategorie „abwesend“ („preoccupied“) zugeordneten Erwachsenen haben ein starkes Fremdheitsgefühl (verschlossen und misstrauisch), jedoch eine geringe Vermeidungshaltung (halten an Bindungen fest). Sie weisen unausgewogene Darstellungen und Beurteilungen der Beziehungen zu den Eltern auf. Ihre Aussagen sind inkohärent und von affektiven Aspekten wie Hilflosigkeit und Wut getragen. Erwachsene des abweisend-vermeidenden („dismissing-avoidant“)-Typs kombinieren ein geringes Fremdheitsgefühl (Offenheit und Zutrauen) mit starken Vermeidungshaltungen (gehen Menschen eher aus dem Weg). Sie fallen durch ein geringes Erinnerungsvermögen auf. Bei ihnen kommt es zu einer Idealisierung der Eltern oder zu einer Abwertung von Bindungspersonen und Bindung im Allgemeinen. Ihre Aussagen sind inkohärent und von überwiegend kognitiven Aspekten getragen. Der ängstlich-vermeidende Typ (fearful-avoidant) hat ein starkes Fremdheitsgefühl (verschlossen und misstrauisch) und dazu noch eine starke Vermeidungshaltung.
Die Erinnerung an die Beziehung zu den Eltern bei den nicht “sicher” Gebundenen zeigt insgesamt weniger Details und wirkt entsprechend lückenhaft, ist aber auch eher generalisiert als differenziert.
Abschließend ging Jörg Bauer noch darauf ein, wie sich chronischer Stress und Depression auf das Erinnerungsvermögen auswirken. Untersuchungen zeigen, dass viele Formen von Erinnerungsverlust stress - bzw. emotionsbedingt sind. So konnte z.B. nachgewiesen werden, dass der für Gedächtnisprozesse elementare Hippocampus bei Depression kleiner wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Depressionen mit Entzündungsreaktionen korrelieren und umgekehrt.
Insgesamt zeigten die Ausführungen, wie wichtig Erinnerungen für die Entstehung von sozialen Beziehungen und anschließend für die Gesundheit sind: Erinnerungen prägen soziale Beziehungen und diese beeinflussen wiederum die psychische und (wie aus dem ersten Tag klar wurde) physiologische Gesundheit (über cardiovasculäre und immunologische Funktionen).
Gelingendes Altern - Impuls Angela von Randow
Nach der Mittagspause stellte uns Angela von Randow eine Präsentation der Psychogerontologin Prof. Dr. Sabine Engel vor, die sie von ihr freundlicherweise zur Weitergabe erhalten hatte. In ihrem am 6. Februar 2015 gehaltenen Vortrag beschäftigte sich Prof. Engel mit dem Thema „Gelingendes Altern“. Prof. Engel begann ihren – von Angela von Randow wiedergegebenem - Vortrag mit einem Verweis auf die sozioemotionale Selektionstheorie, die besagt, dass es im Alter zwar zu einer quantitativen Reduktion der sozialen Interaktionen komme, aber gleichzeitig auch zu einer Konzentration auf die qualitativ wichtigen Beziehungen. Dies seien gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Altern. Auch die Umwelt sei für ein gelingendes Altern relevant.
Es habe sich gezeigt, dass Menschen auch mit Beeinträchtigungen erfolgreich altern können, wenn sie in der für sie passenden Umwelt leben: Für jedes Kompetenzniveau gebe es die passende Umwelt, die gutes Altern ermögliche. Anschließend wurde das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation vorgestellt. Dieses besagt, dass Menschen erfolgreich altern können, wenn die Einschränkungen (des Alters) adaptiv ausgeglichen werden durch Selektion, Optimierung und Kompensation. Selektion bedeutet Auswahl von Zielen und Präferenzen, Optimierung den Einsatz zielrelevanter Handlungsmittel und und Kompensation den Einsatz von (neuen) Mitteln bei Verlust.
Wie kann man nun die Entwicklung beim Altern positiv beeinflussen? Nach Prof. Engel können Menschen „erfolgreich altern“, wenn es ihnen gelinge, ihre motivationalen Ressourcen durch sekundäre Kontrolle so zu schützen, dass sie dennoch handlungsfähig bleiben. Als Beispiele sekundären Kontrollstrebens im Umgang mit Misserfolg oder Verlust führt Prof. Engel an: Abwertung und Ablösung von (nicht mehr erreichbaren) Zielen und neue (erreichbare) Ziele finden; Uminterpretation des Verlustes („positive Seiten“ finden); externale Attribution der Ursachen für Verlust und Misserfolg (die „Schuld“ oder Ursache nicht bei sich suchen); selbstschützende soziale Vergleiche (im Vergleich mit anderen geht es mir ja noch relativ gut) und selbstschützende intra-individuelle Vergleiche (temporale Vergleiche, bei denen ich mein Leben durch frühere positive Erlebnisse insgesamt würdige).
Für ein gelingendes Altern sind auch Neuorientierungen in bestimmten Lebensphasen notwendig – beispielsweise nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oder wenn sinnstiftende Bereiche entfallen, z.B. wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Auch wenn es in der Ehe oder in Beziehungen zu Veränderungen kommt, sind oft Neuorientierungen nötig. Zudem ist für ein gelingendes Altern auch wichtig, dass Verluste bewältigt werden (Tod, Erkrankungen, körperliche Einschränkungen, Umzug ins Heim etc). Ebenso gilt es Belastungen zu bewältigen, z.B. wenn ein Verwandter demenzkrank wird, wenn traumatische Erlebnisse reaktualisiert werden oder wenn Ängste vor Erkrankung und Abhängigkeit entstehen. Schließlich sei es für ein gelingendes Altern auch unabdingbar, rechtzeitig Hilfen zu organisieren, um im Falle von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit gewappnet zu sein.
Theaterarbeit
Uwe Weber setzte am zweiten Workshoptag seine Theaterarbeit fort – er startete mit Stimm- und Bewegungsübungen, die dazu anregten, die eigenen kreativen Spielräume auszuprobieren und miteinander ins Spiel zu kommen. Das Erkunden und Erleben innerer Erfahrungsräume stärkte unsere Vorstellungskraft und wir bekamen ein Gefühl davon, dass wir auch in unabsehbaren Situationen auf unsere inneren Kräfte vertrauen können. Durch spielerische, gestisch und lautmalerisch angereicherte Interaktionen stärkten wir das Vertrauen in uns selbst und auch unter- und zueinander. Wir bauten gemeinsam lebendige Skupturen, wechselten uns ab als „Bildhauer“ oder „Material“ und setzten intuitiv unsere Vorstellungen und Ideen in Szene. Anschließend interpretierten wir unsere lebendigen „Kunstwerke“ bzw. tauschten uns über deren Sinngehalt aus. In einem weiteren Schritt brachte uns Uwe Weber dazu, unseren bislang noch recht statisch wirkenden Inszenierungen Leben einzuhauchen und diese mit Sprache und Bewegung anzureichern, so dass kurze Sequenzen entstanden. Die Bilder lernten laufen, wir betraten die Bühne unserer Erinnerung.
Die Theaterarbeit schloss mit einer Erinnerungsübung ab: Wir begaben uns in Einzelarbeit in Räume unserer Kindheit oder Jugend und versuchten diese mit allen Sinnen zu erkunden: Nicht nur, wie „mein“ Kinder- oder Jugendzimmer damals “aussah“, wurde erkundet – auch welche Sinnesqualitäten (z.B. Farbe der Wände, Beschaffenheit des Fußbodens, Gerüche etc) über das Visuelle hinaus (in der Erinnerung) auftauchten. Das von Uwe Weber angeregte Zusammenspiel der unterschiedlichen sinnlichen Erinnerungen förderte schon lange nicht mehr wahrgenommene (scheinbar vergessene) Bewusstseinsinhalte zutage – manche(r) konnte sich an Wahrnehmungen (Räume, Gegenstände, Berührungen, Bewegungen) erinnern, die er/sie schon lange nicht mehr im Bewusstsein hatte. Es war allerdings manchmal (noch) nicht ganz auszumachen, inwieweit hier tatsächliche Erinnerungen aufschienen oder ob nicht eher Projektionen im Spiel waren. Die vorgeschlagenen Theaterspiele dringen erst durch die wiederholte Übung in tiefere Schichten des Bewusstseins ein und können, wie schon erwähnt, längst verschüttetet geglaubte Erinnerungen wieder lebendig werden lassen, die sich dann wiederum als authentisches, originäres Basismaterial für eine weitere kreative und künstlerische Bearbeitung oder Umsetzung nicht nur in der darstellenden Kunst anbieten.
Erkenntnisse / Resümee
Die Erkenntnisse, die wir an diesem Tag gewannen, waren vielschichtig – besonders die Theaterarbeit wurde als „wunderbares Medium“ gewürdigt, mit dem es gelingt, Altern aus eigener und fremder Perspektive mit all seinen „Schatten- und Lichtseiten“ wahrzunehmen. Aus Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen formten wir lebendige Skulpturen, die dann durch spontane und von individuellen Vorstellungen geprägte (Inter-) Aktionen ein szenisches Eigenleben entwickelten. Das gemeinsame Durchspielen von Rollenverhältnissen erinnerte manche(n) im positiven Sinne an Familienaufstellung. Die theaterpraktischen Übungen machten jedenfalls „Lust auf mehr“.
Die Theaterarbeit zeigte zudem exemplarisch auf, dass nonverbale Auseinandersetzungen sehr intensive Erlebnisse und unerwartete Erkenntnisse hervorrufen können. Dies wurde als Chance für neue Formen kommunikativer Prozesse gewürdigt - „bewegende Kontakte gehen stets über den Körper“. Oder anders gesagt: Als besonders bewegend und wohltuend wurde die gemeinsame Arbeit, das „Etwas miteinander machen“ und das „Zusammenwirken“ empfunden. Gerade das körperliche Zusammenspiel erwies sich als eine ideale Methode, um Zutrauen und Vertrauen untereinander zu erfahren bzw. zu entwickeln.
Erneut löste sich der herkömmliche Blick auf den Begriff „Alter“ auf: „Alter“ kann zeitlos und sinnlich sein und viel Weisheit enthalten. Neue Dimensionen des Alter(n)s schienen auf – auch und gerade im Hinblick auf Spiritualität.
Der Mensch als soziales Wesen, der Zusammenhang von Beziehung und Gesundheit und unser Eingebundensein in eine (reflexive) „Spiegelwelt“ zeigten auf, dass es beim Altern eminent wichtig ist, sich in der Realität (und nicht nur virtuell) auszutauschen und zu vernetzen.
Die Auswirkungen von Erinnerungen auf die Fähigkeit der Zukunftsgestaltung wurde ebenfalls als wichtige Erkenntnis dieses Tages genannt. Sich von der Realität abzuwenden bzw. sich vor ihr zu verschließen hat zur Folge, dass wir unsere Spielräume unverhältnismäßig und ohne Not einschränken, was sich auch lebensverkürzend auswirken kann.
Es wurde nochmals betont, dass die individuelle, persönliche Situation oft stark abweicht von Bildern über das Altern in der Öffentlichkeit. Das Spannungsfeld zwischen Individuum und System bzw. Mensch und Gesellschaft wurde als ein noch weiter zu erkundender Bereich offensichtlich.
Ein weiteres Ergebnis dieses Tages war die Erkenntnis, dass jeder sein Experte des gelingenden Alterns ist – man kann auf das Alter schauen, ohne zu dramatisieren oder zu verzweifeln und somit „das Beste“ daraus machen.